Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Leseprobe

Roman "Grenzregime"

Schattenhaft heben sich Bäume und Sträucher im Silberlicht ab. Der Mond hängt wie eine Laterne darüber. Wiesenteppiche bespannen den Hügel, der gleich zur Kulisse dramatischer Ereignisse wird. Noch beseelt nachtschlafendes Durchatmen die Natur. Aber von fern ist deutlich das Schlagen einer Nachtigall zu hören.

Die hintergründige Stille ist eine Falle und dazu da, die Absicht des Mannes, der langsam den Hügel erklimmt und den Schauplatz betritt, zu erahnen. Er spürt seine Herzschläge bis zum Hals und fürchtet, sie könnten ihn verraten. Der Mann schleicht vornübergebeugt und zwingt sich, unauffällig zu gehen. Durch Hast in dem von Mondlicht behexten Gelände könnte er leicht zur Beute werden.

Auf dem Hang verharrt er, dann wirft er sich ins Gras und späht über das sich sanft ausbreitende Tal. Er kann die Silhouette des vorderen Signalzauns erkennen und ist beunruhigt, weil der Zaun weiter entfernt ist als er dachte. Angst zehrt an seinen Kräften. Auf den umliegenden Höhen könnten Grenzposten stehen und die Gegend mit Feldstechern absuchen.

Tatsächlich hat in der Nähe ein Grenzaufklärer mit Motorrad Stellung bezogen. Regungslos wie ein Uhu hockt er auf der schweren Maschine. Er scheint nur auf Gelegenheiten zu warten wie diese. Er kennt jeden Strauch, liest jede Fährte und weiß wie ein Pfadfinder, auf welche Tiere man als Beobachter trifft und welche Lebewesen nicht hier hingehören.

Wenn Rehe zur Brunftzeit über Signalzäune springen und dabei Grenzalarm auslösen, hat er das meistens vorhergesehen und ebenso schnell im Griff wie das auf Bucheckern gezielte Wildschweinwühlen auf dem frisch gepflügten Spurenstreifen.

Der Aufklärer schiebt die Pistolentasche zur Seite. Sein kritischer Blick streift über den Hügel. Dann konzentriert er sich auf seine Thermoskanne. Während er langsam den Becher abschraubt und peinlich darauf achtet, sich nicht zu verbrühen, erhebt sich zeitgleich der Mann und legt bis zu einer geeigneten Senke, die ihm Deckung bietet, wieder ein paar Meter Richtung Staatsgrenze zurück. Der Aufklärer mit dem Raubvogelblick schlürft an dem schwarzen Gebräu ohne Milchzusatz und Zucker, das ihn wachhalten soll. Aus der Tasche zieht er eine Leberwurst-Stulle, entfernt das Butterbrotpapier und beißt herzhaft hinein.

Da sieht er über der Wiese einen Vogel auffliegen. „Den hat sicher etwas gestört“, denkt der Leberwurstesser. Er kaut lange und versucht, die Vogelart zu bestimmen. Ein Bodenbrüter könnte das sein. Sorgfältig legt er das Butterbrotpapier beiseite.  

Das Brot schmeckt ausgezeichnet.

„Man muss es unter freiem Himmel genießen“, denkt der Naturfreund zufrieden. Sein Grenzgebiet ist weitgehend vor Unbefugten geschützt und in der Sperrzone umzäunt. Sogar Grenzposten müssen sich an Kolonnenwege und die vorgeschriebenen Wege halten. Radikaler kann Naturschutz nicht sein. Manche Stellen erreicht kein menschlicher Fuß, sie sind schon lange unberührtes Terrain. Es ist ein Privileg der Grenzaufklärer, auf jede Bauminsel, sogar ins Niemandsland vor dem vorderen Zaun, zur Überwachung und Kontrolle vorzudringen.

Seine Augen schweifen, während er Kaffee mit spitzem Mund schlürft, erneut über die Senke, ja im Umkreis dieser Bodenwelle scheinen sie länger zu verweilen.

Würde sich der Mann jetzt bewegen, der ausgerechnet da Zuflucht gesucht hat, hätte ihn der Grenzaufklärer mit bloßem Auge entdeckt. Aber der Flüchtling hält still wie eine Maus und rührt sich nicht. Er kämpft mit einer Panikattacke, versucht mühsam, sich unter Kontrolle zu halten. Denn der auffliegende Vogel hat ihn fast zu Tode erschreckt. Langsam beruhigt er sich wieder.

„Ich kann immer noch zurück“, denkt er, „und die Flucht in den Westen verschieben.“

Einerseits ist ihm der Mond zur Orientierung ein guter Begleiter, andererseits zieht ihn die Klarheit der Nacht für die Jäger ins Licht.

„Weiter!“, sagt er und bezwingt die Angst, die sich um seine Brust schließt. Er drückt seine Nase ins Gras. Es riecht nach Erde und er wird es ausprobieren, ob Erde im Westen genauso gut riecht. Der Gedanke soll ihn, so einfältig er ist, von seiner Angstumklammerung lösen. Deshalb überlegt er einen weiteren Augenblick, ob es vielleicht sinnvoll wäre, ein paar Krümel Heimaterde mit in den Westen zu nehmen.

Heimat? Nun melden sich andere Gefühle, denn er ist dabei, seine Heimat zu verlassen und ihr vermutlich für immer den Rücken zu kehren. Ein paar Zeugnisse, lieb gewordene Erinnerungsfotos und ein Personalausweis sind alles, was er drüben vorweisen kann. Den Bolzenschneider, den er mitführt, um Signaldrähte zu zerschneiden, wird er fallenlassen, sobald er das schwere Ding nicht mehr benötigt. Jetzt umklammert er es fest zu seiner Beruhigung.           

Vom Signalzaun zum Ufer, vorher muss er noch das vordere Sperrelement überwinden, sind es vielleicht achthundert Meter. Sie werden ihn auf Leben und Tod verfolgen, ihre Posten am Elbufer zusammenziehen und versuchen, seinen Fluchtweg abzuschneiden.

 

Es sind die Wochen eines historischen Niedrigwassers der Elbe zu Beginn der achtziger Jahre und noch nie war der Druck auf die Staatsgrenze so groß. Den Schnellbooten der Grenztruppen fehlt Wasser unter dem Kiel, sie liegen auf Grund. Man kann ohne Schwierigkeiten durch den sonst so gefährlichen Fluss waten. Das Wasser steht kniehoch, in der Flussmitte reicht es kaum bis zum Hals. Der Fluss hat wenig Kraft und zieht träge seinen Verlauf. Er kann niemand abschrecken. Es ist leicht, das natürliche Hindernis zu überwinden.

Die Erbauer der Sperranlagen am Ostufer hatten sich auf Hochwasser eingestellt. Deshalb fehlen in diesem Elbabschnitt gänzlich die vor dem letzten Sperrelement eingegrabenen Minen oder die neueren Selbstschussanlagen, die direkt am vorderen Zaun montiert sind. Man kann ohne weiteres den „Eisernen Vorhang“ mit der Leiter und einem Seil bezwingen und muss wegen des niedrigen Pegels auch keine Verfolgung zu Wasser befürchten. Der Rundfunk im Westen meldet beinahe täglich: „Und wieder gelang heute Nacht an der Elbe einigen Menschen die Flucht!“

 

Er ist gut informiert. Nachher, wenn er Signalzaun und „Eisernen Vorhang“ bezwungen und den Fluss erreicht hat, wird er durchs flache Wasser schwimmen, tauchen und waten.

Während der Grenzaufklärer seine Thermoskanne verstaut, erhebt sich der Mann aus der Senke und huscht wie ein Wiesel zum Zaun. Es gehört zu den unglaublichen Zufällen, der geschärften Wachsamkeit eines solchen Jägers im entscheidenden Moment zu entgehen. Das Gelände ist frei, als der Aufklärer ein paar Schwierigkeiten hat, den richtigen Platz für die Thermoskanne in seiner Motorradtasche zu finden.

Der Mann erreicht den Signalzaun und wartet erneut, bevor er den Bolzenschneider gebraucht. Er kauert auf der Erde im Spurengraben, wo manchmal Wildschweine nach Bucheckern wühlen, und lauscht. Die Drähte sind nun deutlich zu sehen und er sucht für den Durchbruch eine geeignete Stelle.

Nach einer Weile springt ein Motorrad an und wirft einen Lichtkegel über die Wiese. Der Mann zuckt zusammen und bangt, dass er entdeckt worden ist. Sitzt er nun in der Falle? Wieder schnürt Angst seine Zuversicht ab. Dann sieht er mit großer Erleichterung, wie sich das Motorrad, ohne das Tempo zu erhöhen, auf der Landstraße entfernt.

Die Stille holt sich die Szene zurück. Nur eine Nachtigall, die näher gekommen ist, möchte noch seufzen. Vom Motorradfahrer hat der Mann jetzt nichts zu befürchten.

„Sobald der Vogel noch einmal zwitschert“, denkt er, „gehe ich meinen Weg.“

Endlich hören seine Gefühle auf, Achterbahn mit ihm zu fahren. Für den Moment ist er ruhig und zur Tat entschlossen.

Die Nachtigall lässt auch nicht lange auf sich warten.

Er hebt den Bolzenschneider und kappt die unteren Drähte, damit er hindurchkriechen kann. Dabei bleibt er für eine kostbare Minute zwischen den Drähten wie in einem Spinnennetz hängen. Er zappelt, flucht und kann sich mühsam befreien. Dann wirft er in hohem Bogen das Werkzeug wie sein früheres Leben weit von sich fort und rennt, von allem tatsächlichen und ideellen Ballast befreit, in eine andere Zukunft, aber erst einmal um sein Leben. Er muss das Ufer erreichen, sich vorher noch über den drei Meter hohen Zaun schwingen, und kämpft mit langen und energischen Schritten.

Nun gibt es auch von der anderen Seite, da sein Bolzenschneider Alarm ausgelöst hat, kein Pardon.

Die Posten sind nicht zu Fuß, sondern mit Krad und Kübelwagen gerüstet. In großer Verzweiflung wird der Republikflüchtling gewahr, dass sie bereits reagieren und schneller sind als er. Man kann es an den Scheinwerfern der Fahrzeuge erkennen, die sich auf dem Kolonnenweg bewegen. Eine Leuchtpistole wird abgefeuert. Der Stern brennt sich zum Zeichen, dass die Flucht abgeriegelt ist, blutrot in den nächtlichen Himmel.

Er blickt zurück und sieht, dass das Motorrad zurückkehrt und den Signalzaun erreicht. Mit einer Spurenlampe sucht der Grenzaufklärer die durchbrochene Stelle. Auch der Rückweg ist nun versperrt.

Sie werden die Schlinge enger ziehen, hinter dem überwundenen Signalzaun mit Grenzsoldaten einer rückwärtigen Einheit abriegeln und auch am Elbufer vor dem letzten Sperrelement die Postenkette verstärken. Dafür reißen sie eine Grenzkompanie aus dem Schlaf und werden bei Tagesanbruch mit einer Hundestaffel das Gelände durchkämmen.

Der Mann könnte sich nun ergeben. Stattdessen gräbt er mit bloßen Händen ein Loch. Manchmal, das ist schon vorgekommen, laufen die Hunde vorbei. Aber das passiert selten und es hängt von dem Versteck ab, das einer im Schutzstreifen findet.

Schutzstreifen ist ein doppelsinniges Wort. Laubreste vor einem Busch, hohes Gras über einer Mulde, Knüppel und Äste könnten ihn schützen. Er macht sich unsichtbar und will von der Bildfläche verschwinden. Noch nach dem letzten Strohhalm würde er greifen. Ergeben kann er sich immer noch.

Er ahnt, wie hoffnungslos seine Lage in Wirklichkeit ist, aber gräbt weiter.