Auszug aus dem erstes Kapitel:

 Die kleine Greisin Monique war zweimal am Saaleingang vorbeigelaufen, weil sie träumte. Angenehme Vorstellungen hoben sie über die Steifheit des Alters hinweg und brachten ihren Erinnerungsmotor in Schwung. Sie hatte sich nämlich einen ihrer Tango Argentino über Kopfhörer gegönnt, bevor sie ihr Zimmer zum Essengehen verließ. Der flotte Neo-Tango entzündete ihre Fantasie und versetzte sie auf dem Flur in innere und äußere Bewegung.

Sie straffte sich und richtete sich auf, als würde sie in Tango-Tanzhaltung von einer Seite des Parketts auf die andere schweben. Das sah übermütig und jugendlich aus.

 Mo stürzte sich in ein Abenteuer. Ein atemberaubendes Gefühl von Unabhängigkeit pochte im Takt und es kitzelte sie vor Aufregung im Bauch. Sie lief also rasch, ein Fallschirmspringer hätte vor dem Absprung auch nicht gezögert. Und wieder gab es ein Überraschungsmoment, weil Mo kurzsichtig war und immer erst auf dem letzten Meter ihr Gegenüber erkannte. An Umkehr war nicht mehr zu denken. Denn die Dame ihrer Wahl hatte sich schon erhoben und zog ihr Kleid glatt. Sie lächelte Mo an und zuckte wie zur Entschuldigung mit den Achseln, weil sie größer als die Stürmerin war, die mit ihr tanzen wollte, aber auch, weil sie hinzufügen musste, dass es ihr an hinreichender Tanzerfahrung fehlte. Beides war für Mo kein Problem. Sie fühlte sich gut geerdet und wollte ihren Schwerpunkt beim Führen der größeren Frau ausspielen, ja es war ihr sogar angenehm, dass sie sich ein wenig überlegen fühlte, da die Folgende aus ihrer Unerfahrenheit kein Geheimnis gemacht hatte.

Sie näherten sich vorsichtig und schickten sich in eine Umarmung. Mo betörte der Orangenduft mit einer Note von Zimt, den die Dame verströmte, und sie atmete tief. Der linke Arm der Tanzpartnerin berührte ihren Hals, sie spürte die Fingerspitzen. Die andere Hand nahm Mos Angebot an und suchte Kontakt. Es fühlte sich anschmiegsam an. Sie konzentrierten sich und tauchten behutsam in die Wellen des Tango Argentino, der sie erreichte und ihre Füße, ihre Körper und Gedanken umspülte. Sie waren für wenige Minuten eine Verbindung eingegangen. Mo wollte mit ihr in der Musik ertrinken. Dann raffte sie sich als Führende auf und sendete unsichtbare Impulse. Sie übernahm die Regie und den Raum, der ihnen gehörte. Die Frau in ihrer Umarmung ließ innerlich los und das löste ein Glücksgefühl in Mo aus, weil sich die Folgende anvertraute.

Mo ließ nun die Beine ihrer Partnerin fliegen, eine Sacada hatte sie wunderbar vorbereitet und zur Wirkung gebracht. Voller Selbstvertrauen gab sie Schub in die Richtung, in der sie tanzten. Ihre Umarmung wurde enger. Ein Blick ins Gesicht der anderen verriet, dass sie die Augen geschlossen hielt. Sie hatte die Kontrolle abgegeben. Mo spürte die Fingernägel auf ihrem Nacken und das inspirierte sie, etwas ganz Besonderes aus diesem Tango zu machen.

Eine Pflegerin hakte die tagträumende Monique unter. Das beendete die Tango-Endlosschleife auf dem Flur und sie führte Monique in den Speisesaal hinüber. Dort wurde sie bereits erwartet und freundlich begrüßt.   

Denn der Tisch im Seniorenschlösschen „Zur Heiterkeit“, an dem sie Platz nahm, war für eine kleine Gemeinschaft reserviert, die aus fünf Personen bestand.

Keiner störte die Hochbetagten, die hier ihre Mahlzeiten einnahmen, durch Zwischenrufe oder ungebetene Gesellschaft. Die Senioren, die an diesem Tisch saßen und ihre Lebenserinnerungen austauschten, mussten nicht immer darüber sprechen. Manchmal sahen sie sich bedeutungsvoll an. Oder ein wissendes Lächeln ging um. Dann musste einer von ihnen eine Geschichte aus den Tangotanztagen erzählen. Hin und wieder stritten sie, aber selten, und diskutierten spitzfindige Nebensächlichkeiten.

Am innigsten strahlte es aus dem Kreis, schwappte auf das Hauswesen über, so empfanden es die zur Gesellschaft bestimmten Diener und Pfleger, wenn die vier lachten und über ihren Tango sprachen.

An diesem Tisch wurde der Reigen vergangener Jahre und Jahrzehnte erörtert, nachgelebt und erspürt. Tränen mischten sich bei und versalzten zuweilen die Erinnerungssüße, weil das, was ihnen im Rückblick wichtig erschien, an bedauernswerter Kürze und Endlichkeit litt.

Sie kannten sich von früher und sie kannten sich gut. Es wurde also auch ausgeteilt und eingesteckt, denn man hatte sich durch Liebe und Leidenschaften hier und da leichtfertig oder alternativlos verletzt.

Da spannten vier von fünf Senioren, denn Julia war dauerhaft abwesend, einen Bogen der Weisheiten, ein Regenbogen am Ende des Lebens, das ihnen nicht immer als köstlicher Schauer niedergegangen war. Sie wussten, dass ihr Zusammensein ein letztes und flüchtiges Zeichen bedeutete. Vier Leben, die sich aus Erlebnissen speisten, die, wie ich heute weiß, farbig und einzigartig waren.

Ein Mann befand sich darunter, die Hauptperson, und drei Frauen, die sich nach Aussehen, Charakter und ihren Lebensläufen stark unterschieden. Für die abwesende Julia war stets ein Stuhl reserviert.  

Der Alte bekäme von mir im Regenbogen die Farbe Blau.

Sie waren, wie viele Leute ihres Alters, schwerhörig geworden, mit Ausnahme von Marie, weil die schon seit ihrer Geburt gehörlos war. Ich erwähne das nur, weil sie umso lauter sprachen und ich als Gesellschafter und Diener im Seniorenschloss nicht anders konnte, als ihren Gesprächen und Geschichten vom Berliner Tango der 2020er Jahre zu lauschen.

An den Alten, diesen Hahn im Korb, hatte ich mich erst ordentlich reiben und gewöhnen müssen. Der sagte nun auch nicht mehr viel und ich war überrascht, dass er überhaupt noch einmal durch Inspiration der Damen von den Toten auferstanden war.

Der letzte Schlagfluss hatte seine rechte Seite gelähmt. Seitdem sprach er nur selten. Der Mund hing ihm schief. Aber die Augen, das schwöre ich, diese lebendigen Augen, haben mich eingefangen und ermuntert, ihm das Leben im Haus so angenehm wie möglich zu machen. Heute meine ich, wir wurden sogar Freunde.

Als er im Haus ankam, war er noch ziemlich fit und ein Schelm, immer durstig danach, Geschichten zu erzählen. Selten ist mir ein ehrlicherer Mensch begegnet. Zuerst bin ich darauf hereingefallen und fand alles sympathisch, wunderbar und überzeugend, was er mir erinnerungshalber über sein Tango- und Liebesleben darlegte. Da wusste ich noch nicht, dass offenherzige Leute genauso irrlichtern können wie ich, damals ein junger Mann ohne Orientierung und gefestigte Lebenserfahrung.  

Ich war nach den Erörterungen der Damen, die Gehörlose wurde von einer Tischgenossin, die Danae hieß, in Gebärdensprache übersetzt, so einigermaßen im Bilde über die anstößigen Geschichten, die man über den Alten in Fortsetzungen und Wiederholungen erzählte. Es handelte sich um amouröse Verstrickungen der Farbe Blau mit den anderen Farben des Regenbogens.

Zu meiner Überraschung, sagen wir ruhig zu meinem Entsetzen, entschuldigten das die Damen augenzwinkernd als eine schillernde Facette der vielen Liebeswirklichkeiten.

Zum Zeitpunkt meiner Beobachtungen reizte mich das und forderte mich heraus. Was ich mit anhören musste, trieb mir die Schamröte ins Gesicht.

Heute sehe ich das entspannter.

Die Übersetzerin für Gebärdensprache nannte der Alte gern „meine Blume“, manchmal „Schneewittchen“. Sie bekommt von mir die Farbe Grün.

Er fasste zitternd nach ihrem Haar, wenn er das „Sch-sch-wittchen“ stotternd herausbrachte, ein dünnes Haar, das schwarz wie Ebenholz glänzte und stark eingefärbt war.

Ich gebe zu, dass ich wegen meines eigenen, bis zu diesem Zeitpunkt langweiligen und ohne Höhen und Tiefen verplemperten Lebens neidisch auf den Alten mit dem schiefen Mund war. Und ich kam mir vor wie ein Voyeur, wenn sie am Tisch erzählten.

Diesen Diener-Dienst im Seniorenschloss hatte mir meine Therapeutin Beatrice eingebrockt. Ich sollte hier etwas übers Leben und über die Liebe lernen.

Die gehörlose Marie nannte er „Engelchen“ oder „Schmetterling“. Sie erschien mir im Spektrum des Regenbogens als die Gelbe, die es tatsächlich fertigbrachte, den Mund des Alten mit zwei Fingern gerade zu ziehen, wenn er herunterrutschte, und galant seine Schnabeltasse zum Durstlöschen zu führen.

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